Selbstdarstellung im NetzSelbstporträts zeigen uns (fast) wie wir sind

Geben wir es zu, wir haben es alle schon einmal getan. Spätestens der Blick in das eigene Facebook-Profil entlarvt uns. Jeder hat ein «selfie». Die Selbstdarstellung im World Wide Web gehört mittlerweile zur modernen Popkultur – weil wir alle Narzissten sind?

Selbstporträts zeigen uns (fast) wie wir sind.

Das Smartphone ist gezückt, ein letzter prüfender Blick in den Spiegel und klick. Oder sieht es aus einem anderen Winkel denn nicht doch besser aus? So oder so ähnlich muss man sich eine Person vorstellen, die gerade ein «selfie» macht, ein Selbstportrait, das Sekunden später durch ein paar Klicks auf dem Smartphone im Internet landet und der ganzen Welt präsentiert werden kann. Auch Rihanna, Justin Bieber oder sogar die Obama-Töchter tun es und haben den Trend salonfähig gemacht. Ein Blick in das Internet zeigt uns, dass Social-Media-Plattformen wie Facebook, Twitter oder Instagram überschwemmt werden mit genau diesen Fotos.

Den Begriff «selfie» gibt es schon seit 2004, als das erste Foto dieser Art auf MySpace aufgetaucht ist. In die moderne Popkultur integriert wurde es allerdings erst vor einem Jahr. Heute ist das Phänomen nicht mehr wegzudenken und dass es längst nicht mehr nur ein Jugendtrend ist, zeigt die Tatsache, dass der Begriff nun auch offiziell ins Oxford English Dictionary aufgenommen wurde.

Selbstinszenierung einer narzisstischen Kultur

Doch was macht die Faszination dieser Selbstdarstellung aus? Vermutlich ist es die Kontrolle darüber, wie jemand dargestellt und gesehen werden will. Gefällt das Foto nicht, wird ein neues gemacht, bis man den erwünschten Effekt erzielt: Reaktionen auslösen. Ein neuer Trend? Nicht ganz, denn eigentlich geht diese Art der Inszenierung bis zu den alten Ägyptern zurück, die sich bereits damals in Selbstdarstellung geübt haben. Moderne Technologie hat dazu verholfen, den Prozess zu vereinfachen und die Generation Smartphone hat die Selbstporträts komplett revolutioniert. Genau aus diesem Grund sind die «selfies» auch so beliebt. Wieso jemanden fragen, ob er ein Foto macht, wenn man selbst die Kontrolle darüber hat, wie man aussehen will? Und das System funktioniert: Noch nie gab es so viele Selbstportraits.

Durchforstet man das Internet, findet man sie zu Tausenden, gar Millionen. So verschieden die Menschen sind, so verschieden sind auch die Arten, sich selbst darzustellen. Da wäre zum Beispiel das «Spiegel-selfie»: Es ist deutlich sichtbar, dass das Foto im Badezimmer gemacht wurde, der Blick geht nicht direkt in die Linse. Das «High-Angle-selfie» muss so aussehen, als ob der Betrachter auf die Person herabschaut und diese dominiert. Diese Art der Selbstdarstellung ist vor allem bei jungen Frauen beliebt, weil sie so unbeholfener und verletzlicher wirken. Das Pendant dazu ist das «Muskel-selfie»: Mit nach oben gezogenem T-Shirt oder nacktem Oberkörper will Mann zeigen, was er hat und präsentiert stolz seinen gestählten Körper. Zweifelslos das Berühmteste unter den «selfies» ist das berüchtigte «Duckface». Die Lippen zu einem Schmollmund geformt, lassen diese «selfies» Frauen, die sich verführerisch und sexy zeigen wollen, eher lächerlich aussehen. Dass sich dabei längst nicht mehr alle zu ernst nehmen, zeigt ein neuer Trend innerhalb des Phänomens. Mut zur Hässlichkeit beweisen unter dem Begriff PrettyGirlsUglyFace vor allem junge Frauen. Sie schiessen ein «selfie» nach traditioneller Art und eines mit einer möglichst hässlichen Fratze. Weg von der perfekten Selbstdarstellung heisst hier die Devise.

Image und Selbstdarstellung

Natürlich hat es nicht lange gedauert, bis sich auch die Promis diesem Trend angeschlossen und deren Wirkung erkannt haben. Jetzt zeigen sich Demi Moore oder Rihanna ganz normal, ohne Make-up, ohne Designerkleider und vor allem ohne Hemmungen. Doch für Prominente haben «selfies» noch eine weitere Funktion: Sie wirken so ein bisschen wie Du und Ich. Stars schaffen mit intimen Fotos Nähe zu ihren Fans und nutzen diesen Effekt um ihr Image aufzupolieren.

Doch wer sich ständig selber fotografiert, wird schnell als Narzisst abgestempelt. Carole Lieberman, Psychiaterin aus Beverly Hills, warnt in der USA Today, das Phänomen sei die perfekte Metapher für unsere immer narzisstischer werdende Kultur. «Es ist ein verzweifelter Aufschrei nach Aufmerksamkeit im Stil von: Schaut mich an!». Die Meinungen über das Phänomen gehen auseinander. Pamela Rutledge vom Media Psychology Research Center glaubt, dass diese Selbstdarstellung durchaus auch positive Effekte haben kann. «Es geht nicht nur darum, dass man Rückmeldungen von anderen bekommen will. Fakt ist, jeder Mensch sucht nach Bestätigung». Vielmehr sei es eine Art sich selber zu entdecken und nach seiner Identität zu suchen, herauszufinden, wer man ist und wie man gesehen werden will.

Irgendwie sind wir doch alle Narzissten

Ob «selfies» zur Kultur gehören, darüber lässt sich streiten. Aber seit Anfang dieses Jahres gibt es im Museum of Modern Art in New York sogar eine Ausstellung, die das Phänomen behandelt. Unter dem Titel Art in Transplantation: Selfie, The 20/20 Experience widmet der Künstler Patrick Specchio dem Phänomen eine eigene Ausstellung. Im Gespräch mit der Washington Square News erklärt er, dass das Erste, dem die Besucher in der Ausstellung begegnen, ein grosser Spiegel mit einer integrierten Kamera ist. Die Fotos, die von den Besuchern gemacht werden, können später auf Facebook gepostet werden und wer möchte, kann sein persönliches «selfie» dann im Museum ausstellen lassen.

Halten wir fest: Wer sich selbst darstellt, ist ein Narzisst und wer im Internet omnipräsent ist, dem wird ein Aufmerksamkeitsdefizit nachgesagt. Aber ist das denn schlimm? Nicht unbedingt, glaubt Pamela Rutlegde, denn «die wenigsten Menschen sind mit sich selber zufrieden.» Laut der Psychologin suchen wir alle ständig nach Bestätigung. Also geben wir es zu: Uns allen schmeichelt es, wenn auf Facebook ein neuer Kommentar unter dem geposten «selfie» erscheint. Denn irgendwie sind wir doch alle Narzissten.

Text: Yvonne Lichtsteiner, 16.08.2013, Fotos: via Instagram (kimkardashian, badgalriri, justinbieber)

Mehr dazu